Wien Energie und die wilden Märkte
„Wien Energie: So wurden Milliarden verzockt“, die sensationshungrigen Boulevards überschlagen sich mit Schlagzeilen. „Wien Energie sichert die Versorgung mit Strom, Gas und Wärme für eine Millionenstadt. Spekulationen haben dabei keinen Platz.“, kontert das Unternehmen und versucht zu beruhigen. Wie interpretiert das Gutmann Chief Investment Office die Situation? In einem Gutmann Blickwinkel Spezial gehen wir auf das Thema ein, das uns derzeit alle bewegt.
Unser höchstes Gut ist das Vertrauen unserer Kund:innen. Die Sicherheit der Depots hat oberste Priorität. Ich habe daher in der Vermögensverwaltung in Bezug auf die Verwerfungen an den Energiemärkten eine klare Linie ausgegeben: Es geht nicht darum, davon zu profitieren, sondern unsere Kund:innen vor Schaden zu bewahren. Denn, wenn Krieg auf politische Intervention trifft, sind die Prognosen von heute das Altpapier von morgen.
Die gute Nachricht: Wir sind stark in Unternehmen investiert, die selbst ihre Preise festsetzen können und eine geringe Kapitalintensität haben. Explizit haben wir kaum Investitionen in europäischen Versorgern, über deren Köpfen die Damoklesschwerter Übergewinnbesteuerung und andere politische Eingriffe schweben.
Futures: Fluch und Segen zugleich
Was ist bei Wien Energie tatsächlich geschehen? Ich erinnere mich noch gut, als ich vor Jahrzehnten in den Büros eines Hedgefonds in New Jersey saß. Mit großen Augen folgte ich den Ausführungen, dass der Stromhandel ein wildes Biest ist, da der Preis nicht nur stark schwankt, sondern sogar negativ werden kann.
Seit sogar der Ölpreis im April 2020 zu einem negativen Preis gehandelt wurde, sind wir alle besser mit dieser paradoxen Situation vertraut. Stromhändler zuckten damals wahrscheinlich nur mit den Schultern und sagten: „Kenne ich schon.“ Denn der Strom muss irgendwo hin und wenn die Speicher voll sind, müssen Produzenten dafür bezahlen, überhaupt liefern zu dürfen.
Doch in der aktuellen Situation ist genau das Gegenteil der Fall. Gas und Strom sind knapp und die Preise explodieren.
Blicken wir zurück in die Vergangenheit: Landwirte waren schon immer mit hohen Schwankungen der Getreidepreise konfrontiert. Was machen, wenn der gehandelte Preis im Sommer attraktiv ist, aber nach der Ernte im Herbst kollabiert? Wäre es nicht besser, bereits im Sommer auf Termin Herbst zu verkaufen?
Aus diesem Bedürfnis entstand 1730 in Japan mit der Dojima Reisbörse der weltweit erste Handelsplatz für Termingeschäfte mit Reis. 1848 folgte mit der Chicago Board of Trade die erste Rohstoffbörse in den USA. In den 1970ern wurden dann die ersten Börsen für Finanz Futures gegründet, wie der Kontrakt auf Englisch genannt wird (tatsächlich mit „s“ am Schluss, von futures contract).
Damals schon machten die Farmer die Erfahrung, dass Absicherungsgeschäfte auch ihre Tücken haben. Verkauft man die zukünftige Ernte bereits Monate bevor sie eingebracht ist, kann noch einiges geschehen. Ein Unwetter kann die erhoffte Ernte zerstören. Was nun? Wie das eingegangene Geschäft erfüllen? Oder der Preis des Getreides steigt stark an. Der Farmer denkt sich, kein Problem, ich habe meinen Verkaufspreis bereits abgeschlossen, es ist daher nur ein entgangener zusätzlicher Gewinn. Das Erwachen kommt, wenn die Terminbörse an seine Türe klopft und mehr Sicherheiten haben will.
Denn aus Sicht der Börse verfügt der Farmer noch nicht über das Getreide. Er verkauft zwar mit der Absicht, die gehandelte Menge tatsächlich physisch zu liefern. Tatsächlich hat er leerverkauft und ist damit eine sogenannte Short-Position (im Futures) eingegangen. Der Börse ist das egal. Sie muss darauf achten, dass der Käufer des Kontraktes ein solventes Gegenüber hat. Daher wird sie vom Leerverkäufer bei steigenden Preisen höhere Sicherheiten verlangen.
Bumerang Leerverkäufe
Wien Energie schreibt in ihrer Pressemitteilung vom 30.8.2022 (Markierung vom Autor):
Quelle: Wien Energie Pressemitteilung
Ich gehe davon aus, dass Wien Energie Terminkontrakte dieser Art seit vielen Jahren verwendet. Wir erinnern uns, der Strompreis schwankt so stark, dass sogar negative Preise möglich sind. Da ist es nur verständlich, wenn man die eigene Produktion teilweise absichert. Das gibt mehr Preissicherheit und Stabilität – auch gegenüber dem Endkunden.
Der Börse ist das allerdings egal. Aus deren Sicht wurden Strommengen bis in das Jahr 2024 hinein vorausverkauft und sie muss sicherstellen, dass jeder Vertrag erfüllt wird. Daher verlangt sie bei Preisanstiegen einen Nachschuss an Sicherheiten.
Ich könnte mir vorstellen, dass das Risikomanagement der Wien Energie mit unterschiedlichen Modellen arbeitet und verschiedene Szenarien analysiert. Bei einem Strompreis von 50 Euro pro Megawattstunde (z.B. Anfang 2021) wurden sicher auch Extremszenarien berücksichtigt und wahrscheinlichkeitsgewichtet. In der Praxis zeigt sich jedoch einmal mehr, dass Märkte keine physikalischen Grenzen kennen. Das aktuelle Szenario von Strompreisen in Höhe von 1.000 Euro lag wahrscheinlich außerhalb der Modellannahmen.
Als Warren Buffett vor vielen Jahren einen Co-Manager für das Aktienportfolio von Berkshire Hathaway suchte, sagte er Folgendes:
„Im Laufe der Zeit werden die Märkte außergewöhnliche, sogar bizarre Dinge tun. Ein einziger großer Fehler könnte eine lange Reihe von Erfolgen zunichtemachen. Wir brauchen daher jemanden, der genetisch darauf programmiert ist, ernsthafte Risiken zu erkennen und zu vermeiden, auch solche, die uns noch nie begegnet sind. Bestimmte Gefahren, die in Anlagestrategien lauern, können mit den heute von Finanzinstituten verwendeten Modellen nicht erkannt werden.“
Wir Investoren sind immer auch Risikomanager und dazu gehört es, über Dinge nachzudenken, die wir noch nie erlebt haben. Aktuell lernen Teilnehmer am Energiemarkt diese Weisheit gerade auf die harte Tour.
Die Feinheiten des Strommarktes sind komplex und außerhalb unserer Kernkompetenz. Als ehemaliger Futures-Händler verstehe ich aber die grundsätzlichen Mechanismen. Gerne diskutiere ich mit Ihnen die technischen Details und noch viel mehr freue ich mich, dazuzulernen, wenn Sie einen Denkfehler entdeckt haben.
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